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Sonntag, 9. Juni 2013

Gummistiefel oder Badehosen?

Heute fahren wir in die Ferien ins Ausland in die Schweiz, genauer: in die sächsische Schweiz. Ausgerechnet! Schon seit Tagen beobachten wir die Pegelstände an der Elbe und hoffen, dass das Hochwasser schon abgeflossen ist, wenn wir kommen. Guten Mutes haben wir die Titelfrage beantwortet und die Badehosen eingepackt.

Die Satellitenbilder, die gestern in der deutschen Tagesschau zu sehen waren, haben mich allerdings ziemlich beeindruckt:




Satellitenbilder des NASA-Satelliten Terra zeigen das Einzugsgebiet der Elbe vor und nach dem verheerenden Hochwasser. Die sächsische Schweiz (südöstlich von Dresden) ist auf diesen Bildern unten rechs. Bildquelle: Spiegel online - Wissenschaft

Wirklich beeindruckend, wenn die überfluteten Gebiete sogar aus dem All auszumachen sind! Mit diesem Eintrag verabschiede ich mich in die Sommerferien mit dem Versprechen, hier ausführlich zu berichten.

Samstag, 1. Juni 2013

Schöner schlafen

Der Dauerregen schlägt mir aufs Gemüt — der Frühling ging den Bach runter und der heutige Sommerbeginn bedeutet nur, dass der Regen wärmer wird. Gegen diese wettermässige Tristesse hilft nur eines: eine Veränderung in der Wohnung.

Seit einer Woche schlafe ich in einer Galerie, denn ich weiss noch nicht wohin mit den Lithografien, die bei der Räumung der elterlichen Wohnung angefallen sind. Ich glaube zwar nicht, dass ich mit diesen Bildern besser schlafe, aber auf jeden Fall schöner...


Meine Bettgalerie — vorher

Um etwas gegen die Wettertristesse zu tun, habe ich die Bilder in meiner Bettgalerie umgehängt. Und ich glaube, die Umhängeaktion erfüllt ihren Zweck: Mit den drei orangefarbenen Wüstenlandschaften wirkt das Zimmer frischer und freundlicher.


Meine Bettgalerie — nachher

Und last but not least steht ist auf dem rechten Bild das Wort "soleil" ins Papier gepresst — hoffentlich nützt's!

Mittwoch, 24. April 2013

Streetview by Night

Wenn es Nacht wird über Luzern, dann wird es ruhiger in unserer Quartierstrasse. Nach Mitternacht sind nur noch Autos zu hören, die über den Sedel fahren. Aber durch unsere Quartierstrasse fährt zu dieser Nachtzeit höchstens alle zehn Minuten ein Auto — und sonst ist sie, wie meine Streetview by Night zeigt, menschenleer:


Streetview von unserer Dachwohnung, heute um 1 Uhr 07: Im Hintergrund gut zu erkennen sind die neonbeleuchteten Stationszimmer im Hochhaus des Kantonsspitals.


Das Nachbarhaus auf der anderen Strassenseite im Schein der Strassenlampe: kein Licht in den Wohnungen, die Fensterläden zum Teil zu, wahrscheinlich sind alle im Bett...


Nochmals Streetview um 1 Uhr 12 die Strasse rauf und um 1 Uhr 14 die Strasse runter: Mir gefallen die Spiegelungen im geöffneten Dachfenster.

Und das alles bei Vollmond!

Mittwoch, 17. April 2013

Meistgehasste Britin

"Irgendwie sind wir heute alle Thatcherianer", sagte David Cameron an der Beerdigung der Eisernen Lady. Zu 1% hat er Recht: Sogar für die Linken ist heute ein Trauertag — sie verlieren liebstes Feindbild. Zu 99% hat er Unrecht: Auch nach ihrem Tod ist Maggie Thatcher die meistgehasste Britin.

JUSO-Präsident und SP-Vize David Roth brachte am 8. April auf seiner Facebook-Seite einen reichlich makabren Toast auf Maggies Tod aus: "Sie desindustrialisierte Grossbritannien, zerschlug die Gewerkschaften, gab alle Macht dem Finanzmarkt und war eine gute Freundin von Massenmörder Pinochet. Ich glaub es ist nicht zynisch heute ein Bier auf Maggies besten Tag zu trinken." Nach diesem Statement brach in der Zentralschweiz ein Mini-Shitstorm über den SP-Politiker herein — und ich ärgerte mich ein erstes Mal, dass über Stilfragen diskutiert wurde und nicht über das, was Thatcher den Briten und Britinnen angetan hat.


Bildquelle: ibnlive.in.com

Die polarisierende Politikerin spaltet die britische Gesellschaft sogar noch über ihren Tod hinaus: Die einen sorgen dafür, dass die Eiserne Lady ein 10 Millionen Pfund teures Staatsbegräbnis mit viel militärischem Pomp bekommt, obwohl der britische Staat an allen Ecken und Enden sparen muss. Ein Hohn für die vielen Opfer des Thatcherismus, die sicher auch heute noch keine Thatcherianer sind. Den passenden Kommentar zum Deluxe-Begräbnis lieferte Filmemacher Ken Loach: "Wir sollten ihre Beerdigung privatisieren, die Ausrichtung ausschreiben. Und der billigste Anbieter kriegt den Zuschlag."


Screenshot der Google-Bildersuche nach "the witch is dead ding dong": Nach Thatchers Tod ist Judy Garland's Song aus "Zauberer von Oz" die Nummer 1 der UK-Charts, die Version von Ella Fitzgerald führt die UK-Charts der Jazz-Songs an.
Quelle: www.webpronews.com

Andere wiederum feiern den Tod der alten, pflegebedürftigen Ex-Politikerin wie den Tod der verhassten Hexe im Märchen. Warum ist Maggie Thatcher auch 23 Jahre nach ihrem Rücktritt als Premierministerin (1979 - 1990) immer noch so verhasst?
  • Gemäss Wikipedia privatisierte sie zahlreiche Staatsunternehmen (u.a. British Telecom, British Petroleum, British Airways), sie ruinierte den National Health Service, der zuvor als eines der besten öffentlichen Gesundheitssysteme bekannt war. Nach der Privatisierung der Wasserwerke stiegen die Preise für Trinkwasser um 46%, während die Qualität sank und das Leitungsnetz vernachlässigt wurde. Die Privatisierung reduzierte zwar die Staatsquote und verbesserte das Angebot für die Reichen, aber für die grosse Mehrheit wurden die Leistungen der privatisierten Unternehmen teurer und schlechter.
  • Sie zerschlug die Macht der Gewerkschaften, die — zugegeben — manchmal absurde Auswirkungen hatte (z.B. dass auf Dieselloks zwei Leute mitfahren mussten, weil es auf Dampfloks mit Lokführer und Heizer zwei Jobs gegeben hatte). Beim Streik der britischen Bergarbeiter (1984/85) gegen die geplanten Schliessungen und Privatisierungen ihrer Zechen blieb sie hart. Nach über einem Jahr musste die National Union of Mineworkers (NUM) aufgeben und viele Bergarbeiterfamilien waren ruiniert. Die Entmachtung der Gewerkschaften und die Deregulierung des Arbeitsmarkts führte aber nicht zu einer Senkung der Arbeitslosenquote. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1983 mit 12.5% ihre Spitze und sank erst gegen Ende der Ära Thatcher.
  • Mit dem Big Bang im Oktober 1986 läutete sie die Deregulierung der Finanzmärkte ein. An der Londoner Börse begann der elektronische Wertpapierhandel und der Finanzplatz London, der zuvor gegenüber New York ins Hintertreffen geraten war, startete seine Aufholjagd. Mit dem Big Bang begann aber auch der Kasino-Kapitalismus. Finanzexperten sehen in der Entfesselung der Finanzmärkte eine Ursache für globale Finanzkrise der letzten Jahre.
  • Ebenfalls 1986 schaffte Maggie Thatcher den GLC, den Greater London Council, und fünf weitere von Labour dominierte Stadtregierungen ab. Damit verloren die 32 Londoner Stadtteile ihren Zusammenhalt und London wurde zur weltweit einzigen Metropole ohne zentrale Verwaltung. Damit wurde die Stadtentwicklung privatisiert: Die Erneuerung der 22 km2 grossen Londoner Docklands beispielsweise wurde der London Docklands Development Corporation überlassen, die als Quango (Quasi-autonomous non-governmental organisation) sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen konnte. Die Metropole litt so sehr unter der mangelnden Koordination, dass unter Tony Blair 1999 per Volksabstimmung wieder eine Behörde für gesamt London eingesetzt wurde.
  • Vollends unbeliebt machte sich die eiserne Lady, als sie 1989 die ungerechte poll tax (Kopfsteuer) einführen wollte — seit 1380, als König Richard II. mit einer Kopfsteuer die Peasants’ Revolt ausgelöst hatte, versuchte dies niemand mehr. Millionen von Briten weigerten sich, die Steuer zu bezahlen. Die Proteste gipfelten am 31. März 1990 in der grossen Anti-poll-tax-Demo in London, als berittene Polizei brutal in die friedlich demonstrierende Menge ritt und gewalttätige Ausschreitungen auslöste. Letztlich war die poll tax das Ende der Regierung Thatcher.


"The Battle of Trafalgar", ein 54minütiger Dokumentarfilm von Despite TV zeigt die Polizeibrutalität aus der Sicht von Augenzeugen. Auch nach mehr als zwanzig Jahren löste das Video, das vor einem Jahr von themassawake auf Youtube hochgeladen wurde, immer noch heftige Reaktionen aus.

Maggie Thatcher ist also nicht umsonst die meistgehasste Britin. Deshalb kann ich mich dem unbekannten Sprayer nur anschliessen: Eiserne Lady — roste in Frieden!

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By the way: Am 31. März 1990 war ich mit einem Freund auf dem Trafalgar Square. Als Demotouristen wollten wir den Protest gegen die verhasste pol tax live miterleben. Was wir sahen, war eine riesige, aber friedliche Demonstration. Von der im Video dokumentierten Polizeigewalt haben wir nichts mitbekommen, weil wir auf den Flughafen mussten.

Den Produzenten des Dokumentarfilms kenne ich persönlich. Er ist einer, der nicht hasserfüllt an die Sache geht, sondern relativ cool Stellung bezieht. Ich bin mir deshalb sicher, dass die Polizeigewalt in diesem Video keineswegs aufgebauscht ist.

Donnerstag, 11. April 2013

Eine Beiz ist...

...ein gutschweizerischer Ausdruck für Gasthaus oder Wirtshaus, der manchmal einen abwertenden Beigeschmack hat, manchmal aber auch die Verbundenheit mit einem Lokal zum Ausdruck bringt. Die Anregung zu diesem Gedankensplitter stammt von Lo von Spiegelei, der sich nach meinem gestrigen Eintrag Happy Birthday, dear Kreuz! gefragt hatte, was eine Beiz ist.

Gute Restaurants, die etwas auf sich halten, verwahren sich dagegen, als Beiz bezeichnet zu werden, denn in einer Beiz ist das Trinken (und bis vor wenigen Jahren das Rauchen) wichtiger als das Essen. Auch, aber nicht nur Dank des Rauchverbots, das in Solothurn seit 2009 in Kraft ist, hat sich das Kreuz im Lauf der Jahre von einer Beiz zu einem beliebten Restaurant entwickelt, das für gutes Essen bekannt ist und in dem man abends besser einen Tisch reserviert.

In anderer Hinsicht ist das Kreuz eine Beiz geblieben: Die schönen Holztische werden beispielsweise nicht mit Tischtüchern eingedeckt, wie es in einer Nobelbeiz der Fall wäre. Oder: Sobald sich die Beiz füllt, bleibt man an den langen Beizentischen nicht alleine oder zu zweit — ich jedenfalls komme immer wieder mit Unbekannten ins Gespräch, obwohl ich kein Beizenhocker bin. Eine Beiz ist eben auch ein Treffpunkt. Das Kreuz wird immer auch die Stammbeiz einiger Gäste bleiben, die sich Tag für Tag am Stammtisch oder am Tresen für ein, zwei, drei Feierabendbier(e) treffen.

Auch ich habe mich auf dem Internet kundig gemacht über die Herkunft von "Beiz". Aufschlussreich ist der Wikipediaeintrag zu Beisl, dem österreichischen Pendant zu Beiz oder Beizli. Der Begriff stamme vom tschechischen "pajzl" ab, was soviel bedeute wie Kneipe oder Spelunke. Es handle sich um eine verkleinernde Kurzform des Hauptworts "hampejz" – mit den Bedeutungen "Hundehäuschen, Kegelbahn", später auch "Bordell". Wiktionary führt "Beiz" auf das hebräische Wort בַּיִת‎ (bayiṯ) für "Haus" zurück, von wo es über das Westjiddische und das Rotwelsche ins schweizerische Deutsch gelangt sei. Wer auf Beizentour ist, fragt denn auch gerne seine Saufkollegen: "Gehen wir ein Haus weiter?".

Das italienische Pendant zur Beiz, die Trattoria, ist schliesslich der Ort, wo Speisen "zubereitet" werden (von trattare = bearbeiten, erörtern, konservieren, verarbeiten). In der Schweiz wiederum ist Beizen nicht nur eine spezielle Zubereitungsart von Fleisch und Gemüse, sondern bedeutet auch das Führen einer Beiz: In einer Beiz werden die Gäste vom Beizer oder von der Beizerin bewirtet.

So, das ist jetzt aber genug Wirtschaftskunde für heute!

Mittwoch, 10. April 2013

Happy Birthday, dear Kreuz!

Es ist kaum zu glauben, aber das Kreuz Solothurn, die älteste Genossenschaftsbeiz der Schweiz, wird heute vierzig Jahre alt. Das Kreuz hat in dieser Zeit viele Auf und Abs erlebt, manchen alten Zopf abgeschnitten und manche Neuerung eingeführt. Nach der Gründung am 10. April 1973 war das Kreuz für viele SolothurnerInnen ein rotes Tuch, heute ist Solothurn ohne Kreuz nicht mehr denkbar. Die Genossenschaft hat sich ständig weiterentwickelt und ist auf eine gute Art und Weise älter geworden. Deshalb: Happy Birthday, dear Kreuz!

Montag, 1. April 2013

Ausserirdische Rüebli

Am Ostersamstag haben wir wieder einmal Gäste eingeladen und bekocht. Zum maremmanischen Rindsschmorbraten gabs Kartoffeln und Wurzelgemüse vom Blech. Beim Einkauf habe ich bei Coop ein Pack Karotten Triomix erstanden mit zwei orangen Rüebli, drei weissen Rüebli und einem schwarz-violetten Rüebli. Bin ja gespannt, wie diese ausserirdische Karotte schmeckt, dachte ich.


Bildquelle: Kochblog von Kaffeebohne

Dass es neben den klassischen, orangen Karotten auch noch gelbe ...


Bildquelle: Kochblog der Wilden Henne

... und weisse Karotten gibt, wusste ich, ...


Bildquelle: www.gemuesehof.ch

... aber schwarz-violettei?

Das Wurzelgemüse vom Blech hat meinen Gästen geschmeckt, doch nur zu gerne hätten wir gewusst, welche Karottensorten im Karotten-Triomix von Coop-Naturaplan drin waren. Meine Rüebli-Recherche ergab folgendes:
  • Gemäss Wikipedia ist die Karotte (Daucus carota), auch bezeichnet als Möhre, Mohrrübe, Gelbrübe, Gelbe Rübe oder Rüebli eine Gemüsepflanze aus der Familie der Doldenblütler (Apiaceae). Karotten sind in der EU hinter den Tomaten das am zweitmeisten geerntete Gemüse.
  • Die orange Sorte ist gar nicht so alt. Wahrscheinlich ist sie im 17. Jahrhundert in den Niederlanden entstanden durch die Kreuzung von gelben und von rotvioletten Karotten, die beide ursprünglich aus Afghanistan stammen.
  • Bei den weissen Karotten, deren Ursprung im Mittelmeerraum liegt, vermuteten wir, es handle sich um Küttiger Rüebli, eine alte Schweizer Karottensorte, die in den 1970er Jahren wieder entdeckt wurde. Aber im Sortenfinder von Pro specie rara ist noch eine andere weisse Karottensorte aufgelistet, die in Frage kommt: die Blanche à Collet Vert.
  • Die schwarz-violetten Rüebli sind eine neue Sorte mit dem Namen Beta Sweet, die in den 80er und 90er Jahren in Texas durch die Kreuzung einer fast schwarzen Ur-Karotte mit der uns vertrauten orangefarbenen Karotte entstanden ist.
  • Die gelben Karotten schliesslich sind in der Schweiz als Pfälzer Rüebli bekannt — diese Sorte ist vermehrt auch im Supermarkt erhältlich, war aber nicht in meinem Triomix.
Wer alles und noch mehr über die Karotte erfahren will, sollte sich unbedingt einmal auf www.carrotmuseum.co.uk umschauen.

Und um auf das ausserirdische Rüebli zurückzukommen: Es heisst Beta Sweet, kommt aus Texas und sieht toll aus: aussen schwarz-violett und innen orange. Es sei carotinhaltiger als herkömmliche Sorten und schmecke etwas süsser, aber das kann ich aufgrund des Karottenviertels, den ich kosten konnte, nicht wirklich beurteilen.

Und ganz zum Schluss das Karotten-Universum nochmal in allen Farben:


Bildquelle: commons.wikimedia.org

Sonntag, 31. März 2013

Wahrheitsberg und Blumeninseln

"Hier genügte es, nackt zu tanzen" sagte der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview der SonntagsZeitung vom 24.3.2013 über den Monte Verità als Utopie. Das erinnerte mich daran, dass ich schon letztem Sommer einen Eintrag über unseren Ausflug auf den Tessiner Wahrheitsberg schreiben wollte. Ausserdem in diesem Beitrag: Festivalitis für Touristen, eine Höhenwanderung über dem Lago Maggiore und eine Insel mit wunderschönen Blumen.

1. Ascona — Festivalitis für Touristen


Ascona im Juni 2012: an der Hafenpromenade, in der für JazzAscona geschmückten Hauptgasse und einer herausgeputzen Nebengasse

Anlass für das Interview mit Sloterdijk ist der Primavera Locarnese, ein dreiteiliges vorösterliches Festival bestehend aus Eventi letterari auf dem Monte Verità mit dem Titel "Utopien und herrliche Obsessionen", einem Rahmenprogramm "Youtopia" und einem vom Filmfestival Locarno veranstalteten Filmprogramm "L'immagine e la parola". Eingeladen sind klingende Namen wie Stararchitekt Mario Botta, Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und eben Philosoph Peter Sloterdijk, der mit Enzensberger und Gunhild Kübler die Frage diskutiert, warum Utopien scheitern. Das alles tönt interessant und recht verlockend, allerdings werde ich den Verdacht nicht los, der Locarneser Frühling diene vor allem einem früheren Start in die touristische Ostersaison, denn von den Einheimischen wird sich bestenfalls die deutschsprechende Fraktion für dieses Festival interessieren.

Als wir im letzten Sommer Ascona besuchten, war auch gerade ein Festival im Gang: Überall standen Bühnen für die 28. Ausgabe von JazzAscona, einem Festival, das sich dem traditionellen Jazz und dem New Orleans Beat verpflichtet hat. Auch dieses Festival, das 2009 über 70'000 BesucherInnen anzieht, ist auf den Tourismus ausgerichtet: Mit seinem musikalischen Profil spricht es gezielt ein älteres, zahlungskräftiges Publikum an und hilft im Juni dem Locarnese beim Start in die Sommersaison. Für meine touristische Festivalitis-These spricht auch, dass sich 2009 der Verkehrsverein Lago Maggiore entschied, das Festival zu behalten und weiterhin selber zu veranstalten statt die Durchführung einer privaten Gruppe aus Deutschland zu überlassen (vgl. Geschichte von JazzAscona).

2. Wanderstart mit Treppenweg

Nach der Besichtigung des herausgeputzten Touristenstädtchens beginnt die Wanderung gleich hinter der Hauptgasse mit dem Aufstieg auf den Monte Verità, von wo wir hangparallel nach Ronco sopra Ascona weiterwandern und dann nach Porto Ronco am Lago Maggiore absteigen — ein Treppenabstieg, der es in sich hat und in die Knie fährt. Unsere Wanderroute:

Zum Vergrössern auf die Karte klicken!
Anreise von Locarno mit dem Bus der FART nach Ascona. Rot eingezeichnet ist unsere Wanderung treppauf zum Monte Verità, auf einem schönen Panoramaweg nach Gruppaldo und — weniger schön, aber aussichtsreich — auf asphaltierten Strassen nach Ronco und dann steil treppab zum Hafen von Ronco. Rückfahrt nach Locarno per Schiff der italienischen Navigazione Lago Maggiore mit einem Zwischenhalt auf den Isole di Brissago. Die roten Zahlen beziehen sich auf die Zwischentitel im Beitrag.
Quelle der Basiskarte: map.geo.admin.ch



Am oberen Ende des Treppenwegs zeigt der Blick zurück die schöne Lage von Ascona an der einen Ecke des Maggiadeltas, aber auch dass der beliebte Touristenort kein idyllisches Fischerdörfchen mehr ist.

3. Monte Verità — die Ruinen der gelebten Utopie



Auf dem Gelände des Monte Verità (im Uhrzeigersinn von oben links): Der Torre dell'utopia, die Villa Semiramis, eine erhalten gebliebene Open-air-Dusche und die Casa dei Russi, die russischen Studenten nach der Revolution von 1905 als Schlupfwinkel diente

Der Monte Verità war gemäss Wikipedia in der Pionierphase in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine lebensreformerische Künstlerkolonie, die heute als eine der Wiegen der Alternativbewegung gilt. Die Gründer der Kolonie waren überzeugt, dass die Änderung des eigenen Lebens eine Veränderung der Welt bewirken könne. Sie versuchten, ihre Utopien zu leben.

Für Ise Gropius war der Monte Verità "der Ort, an dem unsere Stirn den Himmel berührt..." — schöner könnte man die magische Anziehungskraft nicht beschreiben, die vom Monte Verità ausging und heute noch legendär ist. Das Zitat stammt aus einem Text von Harald Szeemann, der 1978 durch seine vielbeachtete Ausstellung "Mammelle delle verità" den Hügel über Ascona wieder zu einem Gesamtkunstwerk machte. Der lesenswerte und mit historischen Bildern illustrierte Text veranschaulicht sehr schön das Leben der Pioniere auf dem "Berg der Wahrheit": "Ihre angestrebte Gesellschaftsform, die kooperative Systeme, Frauenemanzipation, Gewissensehe, neue Erziehungsformen, die Einheit von Seele-Geist-Körper in gelebte 'Wahrheit' umsetzen will, ist am besten als privat-besitzfreie urchristlich-kommunistische Gemeinde zu umschreiben."

Auf dem Monte Verità wurde diese Utopie zwar nicht in der Gemeinschaft gelebt, denn schon die GründerInnen verfolgten unterschiedliche Ziele. Aber einzelne verwirklichten ihre Ideale mit solchem Feu sacré, dass der "Berg der Wahrheit" rasch Idealistinnen und Utopisten, Aussteigerinnen und Aussenseiter der Gesellschaft aus ganz Europa und aus Übersee anzog: Theosophen, Lebensreformer, Anarchisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Psychoanalytiker, dann Literaten, Schriftsteller, Dichter und Künstler und schliesslich die Emigranten der beiden Weltkriege. (vgl. Harald Szeemann)


"Roue Oriflamme" (1962) von Hans Arp, einem der vielen Künstler, die vom Monte Verità magisch angezogen wurden.


Unser Mittagessen, ein Tintenfischsalat im Restaurant Monte Verità, hat sicher nicht den Idealen der "vegetabilen Cooperative" vor 100 Jahren entsprochen.


Der deutsche Bankier Eduard von der Heydt liess 1929 vom Architekten Emil Fahrenkamp ein Hotel im Bauhausstil errichten.

Mit den Jahren wurde der Monte Verità immer mehr zum Sanatoriumsbetrieb, der 1920 wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit auch aufgegeben wurde. Mit dem im Bauhausstil erbauten Hotel erlebte der "Berg der Wahrheit" ab 1926 eine zweite Blütezeit, die 1940 abrupt endete. Heute ist der Monte Verità ein Hotel mit Restaurant, ein Tagungszentrum mit Kulturprogramm und ein Museum, das den Mythos pflegt. Der Monte Verità ist aber auch eine öffentliche Parkanlage mit den Überresten einer längst entschwundenen Utopie — und es fühlt sich an wie in römischen Ruinen: Das damalige Leben wird zwar vorstellbar, bleibt aber doch seltsam unbeseelt. In den Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen jedoch wirken die Impulse vom "Berg der Wahrheit" weiter bis in die Gegenwart.

4. Hoch über dem Lago Maggiore

Der Panoramaweg der vom Monte Verità nach Ronco führt, verläuft zunächst in einem parkähnlichen, lichten Wald, dann auf einer geteerten Nebenstrasse durch die verstreuten Villen am Hang über dem Lago Maggiore und bietet immer wieder einen herrlichen Ausblick auf den Langensee, wie der See auf deutsch heisst:

Zum Vergrössern aufs Bild klicken! Das 180°-Panorama reicht vom Maggiadelta mit Ascona über den Monte Gambarogno bis weit nach Italien. Das andere Ende des Lago Maggiore ist nicht zu sehen: Es liegt rund 50 Kilometer südlicher in der Nähe von Arona (Provinz Varese).

5. Ronco sopra Ascona



Um zwei Uhr mittags wirkte Ronco wie ausgestorben — keine Menschenseele war zu sehen. Nicht einmal eine Katze huschte über die Dorfstrasse. Mit den Isole di Brissago vor Augen stiegen wir die Treppen nach Porto Ronco hinunter.



6. Die Navigazione Lago Maggiore

Die Schifffahrt auf dem Lago Maggiore wird von der italienischen Gestione Navigatione Laghi betrieben. Neben Längsfahrten von Locarno ins rund 40 Kilometer entfernte Stresa bietet sie Tragflügelbootverbindungen nach Luino, aber auch fünfminütige Überfahrten auf die Isole di Brissago an.



Unser nächstes Ziel, die Blumeninseln von Brissago, ...



... und der Blick zurück auf den Villenhang von Ronco.

7. Blumeninseln mit Frostschaden

In Extravagante Baronin hat Frau Frogg die interessanteste Geschichte, die mit dem botanischen Garten auf den Isole di Brissago verknüpft ist, sehr schön erzählt. Als wir die klimatisch milden Blumeninseln besuchten, waren etwa ein Drittel der subtropischen Pflanzen vom vorangegangenen kalten Winter frostgeschädigt — ein herber Rückschlag für den 1950 eröffneten Parco botanico. Trotz Frostschaden konnten wir uns an den prachtvollen Blüten kaum sattsehen:







Fragt mich nicht nach den Namen dieser wunderschönen Blumen — ich weiss nur noch, dass die weissen, feinen Blüten im untersten Bild zu einem australischen Teebaum gehören. Mit einem wohlverdienten Bier und einer stündigen Schiffsfahrt zurück nach Locarno endete dieser wunderschöne und abwechslungsreiche Ausflug nach Ascona, auf den Wahrheitsberg und die Blumeninseln von Brissago.
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